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Briefe aus Schlesien
Noch zu ihren Lebzeiten hat mir meine Großmutter
Frieda Geppert, geb. Glemnitz (* 21. Juli 1905 in Ohlau, Schlesien
† 27. März 1994 in Marktleuthen, Bayern) ein Bündel
mit Briefen ihrer Mutter Emma Glemnitz, geb. Horn (* 14. September
1882 in Ohlau † 24. November 1960 in Altena, Nordrhein-Westfalen)
gegeben. Ich habe die Briefe sorgfältig aufbewahrt, aber
lange Zeit nicht näher betrachtet.
Anfang Oktober des vergangenen Jahres bin ich zusammen mit meiner
Mutter Bärbel Stark, geb. Geppert (* 24. März 1939 in
Dammelwitz, Kreis Ohlau) zum ersten Mal in deren schlesische Heimat
gefahren. Sie war bereits vor einigen Jahren mit einer Reisegesellschaft
von Breslau aus in Dammelwitz gewesen und seitdem ist sie mir
in den Ohren gelegen, dass ich mit ihr doch auch einmal nach Schlesien
fahren solle. Lange habe ich mich bitten lassen, denn ich kenne
mich: Wenn ich einmal "Blut geleckt" habe, pflege ich
in neue Interessensphären besonders tief einzusteigen. Die
gemeinsame Expedition in die Vergangenheit der Familie hat dann
tatsächlich einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich
stand auch vor dem Haus in der Ohlauer Ufergasse, in dem einst
meine Urgroßmutter Emma Glemnitz lebte. Da erinnerte ich
mich an das Bündel mit Briefen, das ich von meiner Großmutter
bekommen hatte. Wieder daheim, machte ich mich ans Abschreiben
der verblaßten, teilweise mit Bleistift, sonst aber mit
dem Füllfederhalter mit schwarzer oder blauer Tinte auf vergilbendes
Papier geschriebenen Briefe. Und ich konnte nicht mehr aufhören!
So bewegt war ich von den schlimmen Erlebnissen und dem trotzdem
stets im Herzen und auf den Lippen getragenen Gottvertrauen meiner
Urgroßmutter. Sie sind keine "leichte Kost", diese
Briefe. Und ich – 1966 geboren und glücklicherweise
nicht der "Erlebnisgeneration" angehörend –
kann nun meinen Onkel Fritz Glemnitz (* 17. September 1922 in
Ohlau † 17. April 2004 in Marktleuthen) verstehen, der dies
alles gemeinsam mit seiner Mutter erleiden musste, wie ein Sklave
arbeitete und auch noch mißhandelt wurde, und auf die "Pullacken",
wie er immer zu sagen pflegte, nicht gut zu sprechen war. Dennoch
konnte Urgroßmutter noch versöhnliche Worte finden,
wenn sie beispielsweise von "ihren" Polen schrieb, die
selbst aus ihrer Heimat in der Bukowina vertrieben worden waren,
nun in ihrem Haus lebten und sie vor willkürlichen Übergriffen
bei Hausdurchsuchungen beschützten.
Ich traf bei meinem Besuch im Schlesien der Gegenwart meist freundliche
und aufgeschlossene Menschen. Auch die meisten von Ihnen gehörten
nicht mehr der "Erlebnisgeneration" an und das herrliche
Land, in dem ihre Väter und Großväter nach der
Vertreibung der Deutschen angesiedelt wurden, ist ihnen zur Heimat
geworden. Es ist ein neues Schlesien mit neuen Wurzeln. Doch sollte
die Erinnerung an das alte Schlesien und die Schicksale, welche
die deutsche Bevölkerung dort durch die Schuld des Nazi-Terrors
zu erleiden hatten, nie verlöschen und mahnend in die Zukunft
getragen werden. Mögen die Briefe meiner Urgroßmutter,
die ich nun zu Wort kommen lasse, einen bescheidenen Beitrag dazu
leisten.
Kulmbach, den 3. Januar 2010
Harald Stark
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Emma Glemnitz, geb. Horn (1882 - 1960), die Schreiberin
der Briefe
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Emma Glemnitz an ihre Tochter Frieda Geppert
und die Enkelkinder Karl, Ingrid und Bärbel in Leuthenforst
bei Marktleuthen (Bayern, Oberfranken):
ohne Datum
Meine lieben Kinder!
Euer lieber Brief ist heut angekommen, diese Freude, jetzt wissen
wir doch, wo ihr alle seid. Ich war den Tag so verzweifelt, ich
musste raus aus unserm Haus, wohne jetzt drüben überm
Pferdestall, auch kam Martha
aus Gaulaumit Ernst, brachte ein Brot + 2 Fl. Sirup, grade wo
es nicht mehr gehen wollte, sie sagte wir wohnen hier auch gut.
Sonst sind wir gesund, Fritz muß tüchtig arbeiten
u. ich auch. Gehungert haben wir noch nicht, Mehlsuppe + Kartoffeln,
die Hauptnahrung, es gibt alles zu kaufen, niemand hat Geld, das
ist schlimm. L[iebe] Kinder, ich möchte Euch was Geld schicken,
aber wie? Marta gehts auch nicht gut, möchte gern fort, ich
sage aber, sie soll nur bleiben u. abwarten. Bei uns ist angebaut,
wie es in Dammelwitz ist, weiß ich nicht, ich kanns nicht
erlaufen. Dank Gott, daß ihr dort seid. Was ich um Euch
schon für Sorge hatte, auch um Marianne und Alfred. Nun dank
ich dem l[ieben] Gott, daß er uns doch nicht verlassen hat.
Gerhard wird sich auch noch melden, nur hoffen u. beten, es geht
allen Menschen nicht gut, aber es muß sich doch einmal klären,
wie unsere Heimat wird, ob deutsch — polnisch. Es sterben
viel bei uns, der Stefan ist auf einer Miene auf seinem Felde
zerrissen worden, seine Frau ist auch tot. Sehr viele von unserm
Viertel sind nicht mehr, gehn seelisch + vor Hunger zu Grunde.
Vorläufig kann ich noch meine Ziege für uns melken,
aber wenns nur so bliebe, die Milch erhält einen, man möchte
mit 64 Jahren noch so stark sein, wie in jungen Jahren.
Meine lieben Kinder, folgt nur Eurer Mutter, du l[iebes] Karlchen
lerne was, daß ist gut, Stellmacher möchte ich dir
auch raten, auch Bäcker ist gut, und ihr beiden lieben Mädel
lernt nur auch, alles was nur möglich ist. Hier giebts keine
Schule für die deutschen Kinder; verwildern ganz. Was hat
dieser eine Mann angerichtet auf der Welt.
Ich könnte Euch so viel schreiben, aber mündlich ist's
besser, so es Gott will, und wir uns alle wiedersehen. Wir hoffen
bestimmt noch dieses Jahr, wenn wir auch arm geworden sind, wenn
wir gesund bleiben, kommen wir wieder hoch, wir Deutschen sind
ja Arbeitsmenschen von Jugend auf. Was ich mich freue, daß
ich Euch alle weiß, seid nur weiter stark und bleibt nur
alle gesund, damit wir uns noch einmal wiedersehen, und vergeßt
unsern Herrgott nicht.
Von Mariandel hab ich noch keine Zeile, seid sie weg ist von
uns, von Alfred auch nicht. Marta läßt alle schön
grüßen.
Nun nochmals viele herzl. Grüße von mir und Fritz.
Eben ist Frau Teichmann da, sie läßt Euch auch grüßen.
Pfeilers lassen auch grüßen. |
Emma Glemnitz an ihre Tochter Marianne, damals
zusammen mit ihrem Verlobten Paul Pfeiler bei der "Erfurter
Tante", Elfriede (Frieda) Lange, Gutenbergstraße 57 in
Erfurt: Ohlau, den 17.9.1945
Meine Lieben Alle!
Endlich heute eine Nachricht von Euch, Paul war doch bei Magdeburg,
bei Schwalbachs, und heut war Walter bei uns und erzählte
uns, daß du, liebes Mariandel u. mein lieber Alfred , bei
Tante seid, ich bin um einen Stein leichter um mein Herz. Es war
manchmal zum irre werden, erst hat man mit den Russen allerhand
erlebt und jetzt mit den andern, aber ich bitte immer den l. Gott
um Beistand und er hilft immer wieder. Wir haben alles mit Polen
besetzt, Vater, Mutter, drei Töchter u. ein Enkel, ein 2
jähriger Junge, ich komm mit allen gut aus, sie verteidigen
mich, wenn die poln. Polizei Haussuchung macht, ich muß
aber die Kartoffeln u. Körner teilen, aber das macht nichts,
wir werden nicht hungern brauchen, da könnt ihr alle auch
noch herkommen. Kartoffeln habe ich 1 1/2 Morgen angebaut. Gestohlen
wird auch sehr viel, aber jetzt geht der Polenvater aufpassen.
Meine lieben, unser Vater ist am 9. Juni gestorben, am 11. haben
wir ihn in Klein Tiergarten beerdigt, es ging nicht über
die Oderbrücke, er liegt beim Feder Alfred zu Füssen
und neben der Richter Gretel, die musste auch sterben, die kranken
Menschen können sich nichts antun, schrecklich viel sterben.
Wir sind von Friedland bis zu Hause nur 5 Tage gefahren, waren
Pfingst-Mitwoch in Dammelwitz über Nacht und die Feiertage
zu Hause. Unterwegs haben wir auch genug erlebt, mit den Juden
und Russen, aber weil keine jungen Mädel dabei waren, ließen
sie uns immer wieder weiter fahren. Als wir an unserer Kaserne
waren, hab ich schon unser Dach gesehen, Gott sei Dank, sagte
ich mir, wie's zuhause aussah, kann man schlecht schildern. Jetzt
habe ich mit Fritz die Küche und Schlafstube, das andere
ist alles bewohnt. Sehr saubere Menschen, habens schön eingerichtet,
wohnten zuerst in Weidmannsruh im Walde, Fritz hat mit Eva von
dort 3 Fuder Möbel geholt, vielleicht erben wir noch was,
wenn sie mal fort machen.
Ich verzichte gerne, denn die Flüchtlinge, die jetzt kommen,
stehn vor einem Nichts, wenn wir nur das behalten könnten,
was wir noch haben. Die Menschen bekommen hier keine Zuteilung,
es sind viele Ähren schneiden gegangen und Rapsklopfen, da
kriegen sie beim Hutsch Georg Öl ausgetauscht. Ich war mit
der Pfeilern und Henne mit dem Handwagen in Gaulau, da haben wir
uns Raps mitgebracht, da haben wir Öl. Pfeilers sind nicht
geflüchtet, die haben sich eingeschafft. Am vorigen Sonnabend
war Maria u. W. mit den Pferden hier zur Musterung, haben ihnen
die letzten beiden weggenommen, unsere Eva ist auch gemustert.
Es ist nur noch ein Angstleben, in der Nacht bin ich dauernd am
Fenster, dem Pusch haben sie die Kuh und das Pferd gestohlen,
dem Franke beide Pferde, auch überhaupt allen. Wir fahren
vor die Stalltür den schweren 4 % Wagen in der Nacht. Unsere
Polen haben eine Kuh, da krieg ich manchmal Milch, aber ich habe
eine Ziege. Ich und Fritz hatten sie uns schon im Juni von den
Russen gestohlen, Richters haben auch eine. Der alte Schwietal
wohnt bei mir, er hat 2 Ziegen, die melke ich. Dem sein Haus u.
Starks Haus sind abgebrannt, Schmidt u. Amlang auch, Gerbers auch,
sonst steht alles. Es fehlen ja noch so sehr viel Flüchtlinge,
Frieda ist auch noch nicht da, alles sitzt mit Polen voll. Fritz
muß für die viel Fuhren machen, einem hat er die Wiese
gehauen, der war anständig, gab ihm 200 Zloti, heut ist er
für den Hoffmann Polen in Weisdorf nach Weizen (unendlich
viel Getreide muß verfaulen); Hoffmanns sind auch nicht
da.
Ich habe Schnittbohnen ein ganzes Säckel getrocknet, ich
habe in den Kartoffeln eine Furche angebaut und im Garten. Heute
gabs Möhrchen, auch von meinen. Tomaten, Gurken und Birnen
hab ich auch, nur müssen sie immer klein weg, sonst krieg
ich keine. Gestern hatte ich Besuch, weißt du Marianchen,
die Frau aus dem Sterz , der wir immer Kartoffeln und Milch gaben.
Ist jetzt unsere Landrätin, kommt öfter mal, ich war
auch schon paar mal dort, wohnt am Bahnhof in der Münzenberg
Villa. Einmal gab sie mir Fleisch und einmal Brot und Kaffee mit
Gebäck, sie sagt immer, du komm in mein Haus (kann nicht
deutsch), auch er ist nett, sie fragt jedes mal nach dir. Nächste
Woche geh ich hin, es heißt doch, sie müssen fort.
Den Menschen geht es genau so, wie es uns ging.
Nun meine Lieben wißt ihr, Eure Heimat besteht noch, Frieda
wird wohl müssen zu uns kommen, die hat sicher nichts mehr,
vor 3 Wochen war in Schönfeld noch kein Pole drauf. Friedel
ist noch nicht da, bei Fliege Ernst sitzt einer drauf, die sind
auch noch nicht da. Kl. Tiergarten alles voll, niemand da. Bei
uns ist seit gestern die poln. Fahne eingezogen, wie es wird weiß
man noch nicht. Bei Frieda steht alles, aber im Dorf nicht mehr
viel. Kleinpeiskerau weggebrannt, schrecklich viel Leid hat
man unterwegs gesehen. In Ohlau alles Hotels und Gasthäuser
weg, auf dem Ring steht nur das Rathaus. Ich geh nicht gern in
die Stadt. Unsere Kirche steht, die haben die Polen beschlagnahmt,
gehe in die altlutherische. Sonntags läuten alle Glocken.
Also ich danke Gott, daß ich wenigsten von jemand was weiß
und bitte immer, daß Er uns noch ein einziges Mal zusammen
kommen läßt. Am Samstag war dich der Nädlitzer
Glemnitz Fritz da, den hab ich nicht erkannt, wie ein Verbrecher
sah er aus, Hosen mit breiten roten Streifen, ein Mondgesicht
und Läuse hatte er, mußte sich gleich baden. Ich hab
die Lumpen weg geschmissen und verhungert war er, er kam aus Blechhammer
aus dem Lager, er hat furchtbares durchgemacht, ein Arm war grün
und blau geschlagen, er wollte wiederkommen, wenn er kein Unterkommen
findet.
Meine Lieben, wenn das so bleibt, wie es jetzt ist, kann mans
ertragen, an der Brücke stehen jetzt poln. Posten, da hats
manchmal freche dabei. Mir kamen sie die Weintrauben abfressen,
die Tauben haben sie weggeschossen bis auf 2 Stk., da waren noch
8 Stk. 2 Kaninchen haben wir auch von Russen geerbt, wir fangen
eben klein wieder an. Die Felder sehen ja furchtbar aus, Panzergleise
und Erdlöcher, jetzt machen sie auf den Dämmen die Bunker
zu, Fritz muß Boden wegfahren, auf unserm Platz sind auch
welche, da waren 12 russische Flackmädel in unserem Hause,
die mußten Tag und Nacht Wache stehen, die brachten uns
auch Brot, weil sie sahen, daß unseres verschimmelt war,
und ein Russe war von Fritz der Kamerad, der sagte, du Fritz,
mein Kamerad bist, der brachte mal eine halbe Dauerwurst und einen
Kaffeewärmer, für Fritz eine Mütz sagte er. Viele
Male hatte ich Einquartierung, einmal 12 Menschen mit 90 Schafen,
6 Männer, 6 Mädel, in meinem Ofen gekocht, ein Mittelasier
als Koch, da haben wir mitgegessen, fettes Essen, da hatte ich
Taly, russischen Thee + Zucker, ich habe immer zu ihm gesagt,
er macht zagzerag, ich muß immer aufpassen, er sagte immer,
in Mittelasien wird nicht zagzerag gemacht. Also wenn ihr den
Brief kriegt wird wohl schon allerhand passiert sein. Bleibt alle
gesund und wenn ihr mal kommt, bringt Tante mit.
Viele herzliche Grüße an alle von Mutter.
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Ohlau, Ufergasse 4, der Schauplatz der meisten von
Emma Glemnitz geschilderten Vorkommnisse
Im Fenster: Carl Gustav Glemnitz und seine Ehefrau Emilie.
Vor dem Haus: Karl Gustav und Emma Glemnitz mit ihren Kindern.
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Als wir kamen, konnten wir noch über die Oderbrücke
(eine Holzbrücke von den Russen gebaut), kurz darauf brachen
sie ein Teil ab für die Schiffahrt. Das neu bauen dauerte
6 Wochen. Die Deutschen haben unsere schöne Brücke gesprengt,
war gar nicht nötig, die Russen gingen alle übers Eis.
Jetzt haben sie die Holzbrücke zum 3. Mal gebaut, ein Dampfer
mit Schleppkähnen hat sie weggerissen, aber das gab ein Knall
u. Schießerei, die Schiffer sind ausgerissen mit dem Dampfer,
mußten aber stehen bleiben, die poln. Brückenwache
hat sie beschossen. Ach was ist über die Brücke alles
gekommen, 4 Armeeköre, Millionen von Zivilrussen, sogar mit
Kapelle, Millionen Vieh und Pferde und Autos mit Maschinen und
Lebensmitteln + Möbeln, man kann nicht alles schreiben, alles
mal mündlich, Tag und Nacht, an Schlafen war gar nicht zu
denken, ich hab immer gebetet, lieber Gott laß sie hier
nicht halt machen, aber manchmal doch - ein Angstleben. Aber meine
Polen und auch aus der Nachbarschaft sind anständig, sind
aus Cernowitz (Bukowina), heut sollte Fritz 12 Tage wegfahren,
die haben mir geholfen, daß er nicht brauchte, ich hab gesagt,
das Fohlen saugt noch. Alle Tage was anderes aufregendes. Es kommen
hier schon Trecks durch, wahrscheinlich zurück. Heute Nacht
wurde das erste Mal nicht mehr geschossen. Ich bin froh, daß
ich die Polen habe, sonst könnte man sich nicht erwehren.
Jetzt müssen alle arbeiten gehen, die Jung, Rausch, die Fr.
Schönfelder u. eben die besseren Straße kehren u. eben
die früheren faulen Badegäste, denen schadets nichts.
Nun sind nochmals alle vielmals herzlichst gegrüßt
von uns beiden, auch Pfeilers lassen grüssen, gegenwärtig
ist alles gesund.
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Emma Glemnitz an ihre Tochter Frieda Geppert
und die Enkelkinder Karl, Ingrid und Bärbel in Leuthenforst
bei Marktleuthen (Bayern, Oberfranken):
Ohlau, den 4. 11. 1945
Meine lieben Kinder!
Endlich eine Nachricht von Euch, dankt unserm treuen Gott dafür,
ich bitte ihn unendlich, tut ihr es nur auch, daß er uns
weiter beschützen möchte, auch Euer Vater wird einst
wiederkommen.
Also meine Lieben, wir sind die Pfingstwoche zurück gekommen.
Mittwochs waren wir in Dammelwitz übernachtet, haben mit
Fritz noch tüchtig Dreck aus den Stuben geschafft, Schränke
und Bettstellen auch in der Küche war noch alles. Donnerstags
kamen wir in Ohlau an, auf der Oderstraße sah ich schon
unser liebes Haus stehen. Gott sei Dank, sagte ich mir, im Hause
wohnten 12 russische Flakmädel, vorm Hause hatten sie die
Bunker, mußten auch Wache stehen, sie waren sehr anständig,
auch hübsche Mädel dabei, sie sahen, daß wir verschimmeltes
Brot hatten, da brachten sie uns ein frisches Kommisbrot, ein
Russe war Fritz sein Kamerad, der brachte mal eine halbe Dauerwurst.
So lange die da waren, fühlten wir uns ganz sicher, aber
dann hatten wir viel durchzumachen, über unsere Oderbrücke
(Holzbrücke, die alte ist nur noch halb) zogen 4 Armeen drüber,
Millionen von Zivilrussen und Pferden und Viehherden, Autos, na
alles mal mündlich, man wird sonst nicht fertig.
Die Rückreise dauerte von Friedland bis Ohlau nur 5 Tage,
Vater, Fritz u. ich allein. Paul hatte sich am 9. April Marianne
nach Immenstadt am Bodensee geholt, er wollte sie nicht den Russen
preisgeben, es war auch gut, denn die kamen mitten in der Nacht
zu uns rauf und vor 3 Wochen kam der Schwalbach Walter her von
Magdeburg aus, mal sehen was hier los ist u. sagte, der Paul war
bei Schwalbachs (die sind dort bei Magdeburg), er ist mit Marianne
in Erfurt bei Tante, auch Alfred ist dort, aber er arbeitet bei
einem Bauer bei Erfurt, von Friedel wissen wir nichts.
Ja Vater war in Friedland sehr krank, im Mai kamen wir heim und
am 9. Juni ist er gestorben, am 11. haben wir ihn in Klein Tiergarten
beerdigt, er liegt beim Feder Alfred zu Füßen u. neben
der Richter Gretel, die mußte auch sterben, denn so ein
Angstleben hält nicht jeder aus. Die Oderbrücke war
kaput u. da gings nicht drüber, aber dort ruhn sie ebenso.
Die Gaulauer sind auch seit Mai da, haben aber nichts, kein Pferd,
keine Kuh, ein Pole sitzt mit drauf, haben ganz wenig gesät,
16 M. Kartoffeln, 1 Morgen Zuckerrüben, ja wie Kartoffeln
raus machen? Weizen und Roggen sind meist von Russen eingeerntet
u. gedroschen worden, daß was noch da ist, dreschen die
Polen, bei mir sind auch welche, ich muß auch teilen, 2
Kühe haben die, aber sie teilen nichts. Ich habe eine Ziege,
hatte den Sommer schön Milch, der alte Schwital wohnt in
Werners Stube, der hat 2 Ziegen, die melke ich, da gehts schon,
ich hatte auch im Garten Morrüben, Schnittbohnen u. Burree ,
Kartoffeln 1 1/2 Morgen, auch Weizen u. Roggen, u. Wintergerste,
alles noch zum dreschen. Zu essen haben wir, ich rechne immer,
daß ihr mal kommt, ein Säckel Schnittbohnen, Erbsen
von Euch u. Bohnen habe ich auch, aber wenn es noch nicht geht,
da bleibt nur noch, ich schicke dir 200 M Geld mit, da kauft
euch was, hier gelten nur Slotis.
Ich bewohne nur unsere Küche + Schlafstube, alles andere
die Polen, aber wir hätten alle Platz. Paul wollte nach Hamburg
wegen Schiffahrt u. dann Marianne holen, der wird schon sorgen.
Ja bei Marta kamen vorigen Monat in der Nacht Banditen, alle raus
aus den Betten und in eine Stube, u. dann haben sie alles ausgeraubt,
weg waren sie mit dem Lastauto.
Deine Schränke + Bettstellen u. verschiedenes andere hat
Fritz zu uns geholt , wenn es uns die Polen nicht wegnehmen. Was
haben mich die gequält, jede Woche Haussuchung gemacht und
immer mit erschießen gedroht, deutsche Bestie. Ach es war
schrecklich, aber da ich unsere Polen drin habe, ist keiner mehr
gekommen, die Polenfrau hilft mir, ich vertrage mich gut mit ihr,
es ist noch ein Vater und 3 Töchter, eine verheiratet mit
einem Kind von 2 Jahren, da ist der Mann jetzt auf Urlaub. Die
sind auch übel dran, sind auch aus ihrer Heimat vertrieben
worden. Für immer bleiben die doch nicht hier, viele sagen,
sie wollen in die Heimat zurück, sie holen den Deutschen
jetzt noch das letzte raus, das Volk ist ja auch sehr arm, aber
von arbeiten, wie die Deutschen, wollen sie nicht viel wissen.
Unsere sollten sich ihre Kartoffeln mit lesen, kamen nicht, haben
sich alle stehlen lassen. Fritz ist in Gaulau mit dem Handwagen,
Marta hatte Raps mit geschickt, da ist er mit dem Öl dort.
Von 10 Pfund gibts 1 Ltr. Öl. Ich schicke dir eine Bierflasche
Öl mit.
Liebe Kinder, haltet nur noch aus, hier heißt es, die Polen
werden abziehen, müssen erst 40 % anbauen, ich habe 6 Morgen
Weizen gesät + 4 Morgen Roggen, Fritz mit der Hand. Steht
alles gut, nur Mäuse gibt es viel. Denkt nur, der Glemnitz
Fritz war da, mit seiner Rosine, eine Fleischerfrau, hatten in
Öls eine große Fleischerei. Alles abgebrannt. Die Frau
hat in Beiern drei Mädel im April durch Fliegerangriff verloren,
eine 16, eine 12 u. 8 Jahre, die ging schwarz über die Grenze
nach Sachsen, bei Zwickau hat sie Fritzes Frau + Eltern getroffen
u. kam sie schwarz wieder bis nach hier, und brachte Fritz Nachricht,
blieb über Nacht u. ging dann nach Güntersdorf zu ihrer
Mutter, die hat noch ein 6jähriges Mädel von ihr, wegen
dem ist die so gewandert, in Angst noch um das letzte Kind. Sie
sagte immer, wenn ich wenigstens die Kinder hätte, die ist
ganz arm, nur was sie an hat.
Vorläufig hat uns der treue Gott noch verlassen, aber er
findet uns wieder. Betet nur, vergeßt es nicht, bittet ihn
und dankt ihm für seine Treue. Den Stab haben die Russen
erschossen, Sie lag in der Scheune, er beim Kaiser im Graben.
Den Bernock Otto haben sie vorige Woche erschlagen, er wollte
seiner Frau zu Hilfe gehen, den Purman in Baumgarten auch, dem
hatten sie eine Kuh gestohlen. Marta läßt auch immer
fragen, ob wir unser Vieh noch haben. Wegen dem Vieh laß
ich mich nicht totschlagen. Es gibt sehr anständige Polen,
genau wie bei allen Völkern, es nützt eben nichts, wir
sind doch die Besiegten u. dieser Lump hat doch gesagt, es wird
nur noch überlebende geben. Der hat gewußt wie's kommen
wird. Na, es ist nichts mehr zu ändern, seht zu, daß
ihr gesund bleibt, es wird alles wieder gehen. Deine guten Schuhe
habe ich hier, auch für die Kinder manches, wenn es mir noch
bleibt. In Baumgarten sind auch noch alle weg, in Goy, überall.
Am Montag geh ich mit der Pfeilern nach Dammelwitz mit dem Briefe,
mir graut vor dem weiten Weg zu Fuß. Wenn Gott will und
vielleicht kommts mal schnell, und ihr könnt in die Heimat
zurück, kommts uns gleich sagen, ach die armen Flüchtlinge
hier, haben in den Stuben kein Stk. mehr, aber alles können
doch die Polen auch nicht mitnehmen. Ich denke, so schwarz muß
man es sich auch nicht ausdenken, es kommt immer anders wie man
denkt. Über die Oderbrücke muß man einen Ausweis
haben, auch eine weiße Binde auf dem l. Ärmel, es gibt
sehr anständige Posten, die sagen nichts, aber auch rabiate.
Nun meine Lieben alle, daß war nur etwas, ein Buch könnte
man machen, aber ich hatte viel mit Russeneinquartierung zu tun,
daß erzähle ich Euch, wenn ihr kommt. Seid alle vielmals
herzlich gegrüßt von Eurer Mutter. Haltet aus u. betet
zum treuen Gott.
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Die im Krieg zerstörte alte Oderbrücke in
Ohlau
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Fragment eines Briefs von Emma Glemnitz aus Ohlau:
ohne Datum, wohl Frühjahr 1946
... versteht nichts, rührt keine Hand an, wir haben schönes
Korn, 2 M. Hafer, bei Gerbers schöne Kartoffeln, 1 M. Gerste
und Weizen angebaut, alles hat Fritz der Sklave, mit der Hand
schön gesät. Der hats nicht gut, aus unserm Hause mußten
wir raus, wohnen drüben oben im Hause. Meine Lieben ihr könnt
doch mit Ruhe schlafen gehn, aber wir nicht, man ist schon ganz
nervös. Ich und Fritz machen sofort weg, wenn es soweit kommen
sollte. Die Eva und das junge Pferd und der Ochse leben noch,
es gehört uns aber nichts mehr, sind bettelarm, wenn uns
nur der liebe Gott Gesundheit schenkt, wer krank wird stirbt.
Der Berger ist auch da, sein Haus ist noch ganz, aber wo er wohnt,
weiß ich nicht, es wohnt keiner in dem Seinigen, hat auch
keiner was, nur Altes und Lumpen, man kennt die Menschen bald
nicht mehr wieder. Ohlau ist viel abgebrannt, der Ring ringsum,
nur das Rathaus ist ganz, der Schloßplatz, nur Kirchen u.
Gymnasium stehen, alles andere weggebrannt, eine Holzoderbrücke,
jetzt steht keine Wache mehr da. Alles ist einem fremd, die Deutschen
verkriechen sich wie die Mäuse, Sonntags, nur wochentags
müssen sie arbeiten. Bleibt Ihr meine Lieben gesund und Gott
befohlen und seit herzlich vielmals gegrüßt von Mamma
und Fritz.
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Emma Glemnitz an ihre Schwester Elfriede (Frieda)
Lange, die "Erfurter Tante", Gutenbergstraße
57 in Erfurt:
Ohlau, den 1.5.1946
Liebe Schwester!
Da hier schon viele Post erhalten haben, will
ich mal an dich schreiben, vielleicht habe ich Glück. Wie
geht es dir noch? Ist Mariandel oder Alfred in deiner Nähe?
Vater ist doch am 2. Juni voriges Jahr gestorben, liegt in Kl.
Tiergarten beerdigt, er hatte nur noch 3 Wochen nach der Flucht
gelebt. Ich und Fritz arbeiten bei unseren Polen. Gehungert
haben wir noch nicht, wir beide haben aich die Kartoffeln allein
gelegt, 35 Körbel ich allein, aber der l. Gott hat uns
bis jetzt geholfen, daß wir stark sind. Die Eva, das Fohlen,
und den Ochsen sind noch da, müssen tüchtig im Acker
arbeiten. Die Ziegen haben sie mir noch nicht weggenommen, die
Milch erhält uns noch. Fritz ging bis jetzt jeden Monat
mal nach Gaulau, Marta schickt immer was mit, 2 x war er mit
dem Handwagen nach Kartoffeln. Ach, das vergangene Jahr war
ein Schreckensjahr, das man noch Nerven hat, ist viel. Wenn
uns der Herrgott noch das Leben schenkt und wir uns wiedersehen,
dann alles mündlich. Frieda ist in Oberfranken, soll nun
froh sein, daß sie noch nicht hier ist. Hier sind schon
viele tot. Frau Stefan auch, und Ihn hat eine Miene zerissen
beim Acker abbrennen. Viele sterben vor Hunger, die Menschen
schleichen nur noch so vor Schwäche, ich danke Gott, daß
er uns noch nicht verlassen hat, ich darf nie nachdenken, sonst
ist's aus. Die Post geht jetzt, ist ein Lichtblick Unser schönes
Ohlau ist viel zerstört, der Ring auch, nur das Rathaus
ist ganz, der Schloßplatz auch kaputt mit der Schule.
Gymnasium und Kirchen stehen. Straßen sind sauber, Schiffahrt
geht auch, aber wenig. Unsere alte schöne Adlerbrücke
wird auch gebaut, arbeiten schon dran, 3 Jahre soll's dauern,
bis sie fertig ist. Wir sind doch nur ganz wenig Deutsche da
von unserem Viertel. Wir hoffen, daß alle bald kommen.
Frau Fiebig ist mit Hanne in Hamburg. Heute am 1. Mai haben
wir eine Musik im Haus (To huwa bohu). Mein Besitzer ist ein
Musiker, da kannst du dir denken? Da wird geübt das Ganze.
Sonst gehts zum Aushalten, nur manchmal wird's schlimm.
Im Januar wollt's gar nicht mehr gehn, wenn der Abend kam, zitterten
wir schon, dauernd das Plündern und Haussuchen. In Gaulau
waren alle krank, Marta hat unterm Arm eine Linchdrüse ,
alle Halskrank. Karl ist in Wansen konfirmiert worden, mußte
allein gehen, Fritz hatte den kleinen nach Wansen mit dem Handwagen
zum Arzt gefahren, mußte ihm eine Spritze geben für
den Hals, sonst wäre er erstickt. Überall Elend noch
und noch, raus und runter jagen von den seinigen, wir Armen
sind doch nicht schuld, die Schuldigen kommen nicht zu Hause.
Meine liebe Schwester schreibe bald einmal. Der Brief kostet
6 Zlotti, ich stecks mit rein.
Viele viele herzliche Grüße von uns beiden an Euch.
Von den Schönfeldern weiß ich nichts.
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Emma Glemnitz an ihre Tochter Frieda Geppert und
die Enkelkinder Karl, Ingrid und Bärbel in Leuthenforst bei
Marktleuthen (Bayern, Oberfranken): Budberg ,
den 30.06.46
Meine lieben Kinder!
Ich und Fritz sind jetzt in unserer neuen Heimat angelangt. Wir
sind von zu hause über 8 Tage gefahren, Tag + Nacht im Waggon
geschlafen, erst die letzten Tage kamen wir in Lager, in Siegen
lagen wir eine Nacht in der Kaserne, hatten dort gute Verpflegung,
in Soest im Lager, in Werl im Lager 2 Tage, dann kamen wir in
ein Gasthaus, 20 Menschen 3 Tage, dort ging ich aufs Arbeitsamt
und bekam eine Stelle bei einem Bauer, Fritz macht Knecht, die
Frau ist sehr tüchtig und sehr gut und hat gestern gebratene
Leber mit Gemüse, heut wieder Fleisch, Kartoffeln, Soße,
Salat u. nachher Erdbeeren, also viel, auch Vesper, heute sogen.
Hörnchen gefüllte, weil Sonntag. Gestern war Peter +
Paul, fromme Menschen, doch gute. Ich muß immer Beeren pflücken,
fünf Kinder, aber sehr fein, extra ein Kindermädchen,
2 Lehrmädchen, wir sind 18 Personen zum Essen. Ein herrlicher
Garten, Beeren allerhand und Gemüse auch, einen Schweizer
haben sie auch, ein spickiger Holländer, ich versteh ihn
nicht viel. Ich freu mich und danke unserm Herrgott, daß
er uns hierher geführt hat, von den Banditen sind wir endlich
erlöst, es war ja zum irre werden, das sind keine Menschen,
wir sind ja jetzt bettelarm. Die Betten habe ich für uns
mit, haben vier Stühle mit Bettstelle + Tisch. Nur die Schuhe
haben sie uns weggenommen u. von Marianne sämtliche Wäsche,
solche Banditen, aber allen geht es so. Ich + Fritz sollten dableiben,
da haben wir uns weggeschlichen ohne Schein, nur alles in Angst
eingepackt, die haben die Deutschen von den Feldern geholt, ohne
was mitzunehmen, na die Ärmsten erst. Ich hatte einen richtigen
Gangster, er war viel besoffen, Fritz hat mit dem Gewehrkolben
gekriegt, warum weiß ich heut noch nicht. Einen Maschinengewehrgurt
haben sie unters Holz gelegt und schobens auf Fritz, er hätte
Waffen. Ach man kann die Greueltaten gar nicht schreiben, es graut
einen. In den Nächten kamen sie alles durchsuchen + stehlen.
Ich hoffe, daß wir uns doch noch einmal wiedersehen, ich
arbeite hier sehr gern, denn alle sind freundlich. Flüchtlinge
sind auch hier aus Landeck. |
Ergänzung aus einem Brief von Marianne
Glemnitz an ihre Schwester Frieda Geppert in Leuthenforst bei
Marktleuthen (Bayern, Oberfranken):
Bottrop, den 4. 7. 46
...Denkt Euch, von Muttel auch Nachricht. Sie ist seit dem 16.
Juni mit Fritz von Ohlau fort, in Westfalen. Ein wahres Glück,
das sie gesund aus dieser Hölle entkommen sind. Sie müssen
unendlich Schweres ertragen haben. Aber was jetzt, wo sollen sie
hin! Sind jetzt schon im 4. Lager und im Industriegebiet da gibt
es nichts als Elend. Die Kinder kommen aufs Schiff Kartoffeln
betteln. ... Ich habe Muttel Bescheid gegeben, sie sollen vorläufig
aufs Land, da haben sie zu essen. Sonst stecken sie Fritz in die
Kohlengrube, da geht er kaputt bei der Ernährung!
Heim können wir nie mehr, Schlesien ist jetzt von den letzten
verlassen, da es nicht mehr zum Aushalten war. ... So viele alte
Bekannte sind den Hungertod gestorben. ...
© by Harald Stark, Kulmbach 11/2009
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