In ihrer Ausgabe vom 4. November
2016 berichtete die Bayerische Rundschau unter der Überschrift
„Abriss verändert das Stadtbild“ vom erneuten
Verlust historischer Bausubstanz in Kulmbach. Inmitten der geschichtsträchtigen
Altstadt fiel ein altes Haus dem Abrissbagger zum Opfer, um Platz
für Privatparkplätze zu machen. Diese Nutzung erschien
wohl lukrativer, als das Gebäude denkmalgerecht zu sanieren
und bezahlbaren Wohnraum in der Innenstadt zu schaffen. Das Gebäude
gehörte einer Londoner Immobilienfirma, deren örtlicher
Vertreter – über den Grund des Abbruchs befragt –
in der Tageszeitung folgendermaßen zitiert wurde: „Es
war komplett marode und teilweise sogar am Einstürzen.“
Zudem sei es nicht schützenswert gewesen, denn „zwei
Drittel waren neu und der Teil, der historisch war, war komplett
verbastelt“. Dieser Aussage widerspricht jedoch die Tatsache,
dass das Gebäude nicht nur dem Denkmalensemble Altstadt Kulmbach
angehörte, sondern auch als Einzeldenkmal in die Denkmalliste
eingetragen war.
Wohnhaus halb massiv, mit Ziegeln gedeckt
Zugegeben, von außen war das Haus mit seinem rot angestrichenen
Verputz wahrlich kein Schmuckstück mehr gewesen. Doch schon
beim bloßen Betrachten der Fotos deuten dunkle Verfärbungen
in der Fassade des Obergeschosses auf ein hier unter dem Putz
verborgenes Fachwerk hin. Leider wurde ich auf den Abbruch des
Gebäudes erst aufmerksam, als bereits der meiste Schutt abgefahren
war, so dass ich mir von der inneren Konstruktion des Obergeschosses
kein Bild mehr machen konnte. In der stehen gebliebenen Ruine
des Erdgeschosses jedoch deutet sich im hinteren Teil des Gebäudes
ein Tonnengewölbe an; die übrigen Räume verfügten
wohl über flache Balkendecken. Die schmalen Abdrücke
der Raumtrennwände im Innenverputz des Erdgeschosses lassen
auch hier an Fachwerkkonstruktionen denken. Zumindest die Diele
im Erdgeschoss verfügte über einen besonders um 1900
beliebten, mit geometrischen Mustern gegliederten Steingutfliesen-Fussboden.
Schon 1797 wurde das Haus in einer „Examinations-Tabelle
über die Anzahl und Bauart der Häußer in der Hauptstadt
Culmbach“ ähnlich beschrieben: „Wohnhaus halb
massiv, mit Ziegeln gedeckt“. Hinter diesen kurzen Worten
verbirgt sich ein im Erdgeschoss aus Steinen gemauertes und im
Obergeschoss aus Fachwerk errichtetes Gebäude mit einem Ziegeldach.
Diese Beschreibung behielt wohl bis zum Abbruch des Wohnhauses
seine Gültigkeit. Die nach Norden hin gestreckte Dachform
lässt darauf schließen, dass das Gebäude einmal
nach dieser Richtung erweitert wurde; die modernste Bauveränderung
war aber sicherlich der Dacherker auf der Nordseite des Hauses.
Nachbarschaft zur Mittleren Badstube
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich in den 90er Jahren
des vorigen Jahrhunderts ganze Ladungen von Fotokopien in dem
kleinen Ladengeschäft hinter dem Schaufensterchen auf der
Nordostseite des Hauses hergestellt habe. Sicherlich war dieser
Laden samt dem Schaufenster ein Einbau aus dem frühen bis
mittleren 20. Jahrhundert gewesen. Zuletzt befand sich das Fotokopiergeschäft
Hübner & Hübsch darin. Nach dem Kulmbacher Adressbuch
von 1992 bewohnten die Familien Sosniok und Genk das Haus. 140
Jahre vorher gehörte es dem Chirurgen Adolarius Meyer. Der
Chirurg von damals ist keineswegs mit einem Chirurgen unserer
Zeit zu vergleichen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts genossen die
Träger dieser Berufsbezeichnung noch eine eher handwerkliche
Ausbildung und waren bessere Bader. Eine Badstube – nämlich
die Mittlere Badstube – hatte sich noch 1812 im benachbarten
Anwesen Unteres Stadtgäßchen 6 befunden. Nachdem diese
jedoch 1815 an den Büttnermeister Christoph Krauß verkauft
worden war, war es wohl naheliegend, dass sich nun im benachbarten
Haus ein Chirurg niederließ, um den notleidenden Kulmbachern
seine Dienste anzubieten.
Ratsschreiber und Floßinspektor
Meyer wiederum hatte das Haus 1825 vom Johann Enoch Popp erworben.
1790, als dieser die Witwe Magdalena Sabina Fleischmann geheiratet
hatte, war er noch amtshauptmannschaftlicher Schreiber in Kulmbach
gewesen. 1806, als er mit Anna Catharina Gräf, einer Tochter
des Bürgermeisters und Stadtrendanten Johann Caspar Gräf,
zum zweiten Mal in den Hafen der Ehe einfuhr, wird er als „Königlicher
Floß-Inspector wie auch Stadt-Rendantur-Assisten allhier“
bezeichnet. Die Flößerei spielte in Kulmbachs vergangenen
Tagen eine wichtige Rolle. Den Stadtprivilegien gemäß
erhielten die Kulmbacher gegen den üblichen Waldzins jedes
Jahr 4800 Gerten Holz aus den markgräflichen Wäldern
im Fichtelgebirge, die auf dem Main nach Kulmbach geflößt
wurden. Dies entsprach einer Menge von 33.547 Ster Holz. Der markgräfliche
Floßhafen befand sich beim landesherrlichen Viehhof, etwa
dort, wo heute die Kulmbacher Stadthalle steht. Die Kulmbacher
leiteten ihr Flößholz in den Floßbach, der beim
heutigen Einkaufszentrums „Fritz“ vom Mühlgraben
abzweigte und im Bereich der jetzigen Hardenbergstraße ein
Stück nach Westen zog, und lagerten es am Floßanger
auf der Draht. Für die richtige Verteilung und Bezahlung
des Holzes und die Abgabe der sogenannten Deputathölzer,
die ein Teil der Besoldung der meisten Beamten waren, sorgte der
Flößinspektor; im frühen 19. Jahrhundert also
der Besitzer unseres Hauses im Unteren Stadtgäßchen,
Johann Enoch Popp.
Dieser hatte dasselbe von seiner ersten Frau, der Witwe Magdalena
Sabina Fleischmann, geerbt. Deren erster Mann war der Kulmbacher
Ratsschreiber Johann Emanuel Sebastian Fleischmann gewesen. Ebenfalls
ein wichtiger Mann; heute würde man ihn als den geschäftsleitenden
Beamten der Stadtverwaltung bezeichnen. Er ist seit 1752 im Besitz
des Anwesens Unteres Stadtgäßchen 4 nachweisbar und
hatte es damals aus dem Nachlass seines Vaters, des Bürgermeisters
und Ratsschreibers Christoph Lorenz Fleischmann übernommen.
Handwerkerhaus am Kulmbach
Die Lage am Kulmbach, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Mittleren
Badstube, lässt uns die Geschichte des Hauses auch über
die leider zu konstatierende Lücke in den hausgeschichtlichen
Notizen des Geistlichen Rates Johann Schlund hinweg verfolgen.
Als explizit hausgeschichtliche Quellen stehen für das 17.
und die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts die beiden Kulmbacher
Stadtlehenbücher von 1597 und 1568 zur Verfügung. Danach
befand sich das Anwesen während dieser Zeit im Besitz der
Drechslerfamilie Reuß. Im ältesten Lehenbucheintrag
zu unserem Haus begegnet uns Conrad Reuß, der am 6. Juli
1574 mit seiner neben dem Haus von Jobst Wirt und an Wolf Schirmers
Garten gelegenen Behausung belehnt wurde. 1589 erwarb Conrad Reuß
das Nachbarhaus von der Ehefrau des wohl schon länger verschwundenen
Maurers Jobst Wirt, mit der Absicht, dasselbe mit seinem Wohnhaus
unter ein Dach zu bringen. In der Folge ist also ein Umbau und
eine erhebliche Vergrößerung des Anwesens Unteres Stadtgäßchen
4 anzunehmen. 1629 wurde dieses in der Erbteilung vom Drechser
Hans Reuß übernommen. Er starb 1650 und sein Sohn,
der Bürger und Drechsler Hans (d. J.) Reuß wurde als
Lehenträger für seine Mutter mit dem „Wohnhäußlein
im Vogts-Gäßlein beym Mittelbad“ belehnt. Sie
besaß es 20 Jahre lang, bis es ihr der schon als Lehenträger
bekannte Sohn Hans am 10. Mai 1670 abkaufte.
Nun klafft eine Forschungslücke von 82 Jahren in der Hausgeschichte.
Während sich das Haus bis in die Zeit nach dem Dreißigjährigen
Krieg in den Händen von Handwerkern befunden hat, wurde es
nun Wohnsitz von städtischen Beamten. 2016 schließlich
hat die wechselvolle Geschichte dieses Hauses ein unrühmliches
Ende gefunden: In Zukunft parken Autos an seiner Stelle.
Harald Stark
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